Widerstand gegen die eigene Betroffenheit?

von 2b am 11. November 2007

Indem ich manche Schwierigkeiten mit dem Leben einer Mehrheit oder gar fast allen Menschen zuordne, verstosse ich gegen ein unausgesprochenes Gesetz. Ich entschuldige mich dafür.

Beispiele für solche kollektiven Zuordnungen sind Depression, Suchtneigung, Unfähigkeit sich zu regulieren, Liebesnot und schliesslich Lebensinkompetenz. Und natürlich Unwertempfinden – das UV21.

Im Folgenden beschreibe ich die Kräfte, die dieses Gesetz ‚es sind die anderen‘ geschaffen haben und dafür sorgen, dass dieses eingehalten wird.

  • Wir haben im Interesse der eigenen Psychohygiene (nur nicht in den Unwert versinken!) üblicherweise den dringenden Wunsch, Probleme nur einer bestimmten Minderheit zuzuordnen. Wir suchen wissenschaftlich geradezu verzweifelt nach Gründen, die diese Zuordnung bestätigen, damit wir erleichtert sagen können: „Es sind die anderen!“
  • Wenn wir dann doch einmal unzweifelhaft betroffen sind, beginnt die zweite Phase des Spiels: Die Erklärungen. Diesmal ist es die individuelle verzweifelte Suche nach `plausiblen`, sprich: äusseren Gründen für das Auftreten des Problems.
  • Nahtlos geht es in die dritte Phase über: Das möglichst rasche Aus-der-Welt-Schaffen des peinlichen Symptoms, egal mit welchen Mitteln, wenn diese uns nur nicht selber als Verursacher definieren.
  • Erst wenn all das nichts fruchtet, ein kompletter Zusammenbruch droht, oder die Schwierigkeiten über Jahre andauern, beginnen wir zu akzeptieren: Wir gehören jetzt zu `den anderen`. Dadurch wird unser Leben allerdings noch mehr zur Lüge wird. Gegenüber all jenen, die nicht in unser Geheimnis eingeweiht sind, gilt es, die Fassade aufrecht zu erhalten.
  • Falls das auch nicht mehr geht, unser Leben einen endgültigen Knick erhalten hat, gehören wir fortan zur Minderheit der Gescheiterten. Wir stehen auf der andern Seite der – in Wahrheit gar nicht existierenden – Grenze.
    Wer diese Schwelle einmal überschritten hat, ordnet sich in einer neuen Gruppierung ein, die im Wesentlichen ein Ziel verfolgt: Sich in irgendeiner Weise zu rechtfertigen und andere(s) für die eigene Notlage verantwortlich zu machen.
  • Sind wir erst einmal anerkanntes Mitglied der Gruppe der Verlierer, sind wir paradoxerweise nur schwer, wenn überhaupt, dazu zu bewegen, uns wieder auf die Gewinnerseite zu begeben. Zu gross erscheint der Aufwand. Zu gross die Scham!

Ich hatte die kolossale Verbreitung dieser öffentlich nur einer kleinen Minderheit von Kranken und Gescheiterten zugestandenen Probleme bereits früh erkannt. Nämlich bereits in der ersten Phase meiner eigenen Therapie vor nunmehr fünfunddreissig Jahren. Zu jenem Zeitpunkt begann ich, tief berührt von den wuchtigen Begegnungen mit meinem bislang verdrängten Innenleben, die Welt und in ihr die Menschen mit anderen Augen zu betrachten. Je mehr Erfahrungen ich sammelte, desto deutlicher konnte ich jeweils den Weg von der Fassade, dem für alle sichtbaren Teil des Menschen (siehe auch den Artikel zum Thema Image!), ins Innere skizzieren. Und das übte ich in der Folge hundert- und tausendfach. Es war so faszinierend (und erschütternd!). Und ich dachte keinen Moment daran, dass ich mir damit die wichtigste Prädestination zum Psychotherapeut erarbeitete.
Bis ich allerdings wagte, systematisch und mit der nötigen Selbstverständlichkeit auf unsere kollektive Betroffenheit hinzuweisen, bedurfte es der Erkenntnis, die dieser gewaltsam verdrängten kollektiven Betroffenheit einen einfachen Sinn gab. Das war die Entdeckung des Unwert-Virus UV21.
Diese Entdeckung machte sowohl das kollektive Auftreten all dieser Symptome als auch deren kollektive Verdrängung mit einem Schlag verständlich. Plötzlich war das alles logisch und war grundsätzlich auch einfach zu verstehen…, wenn nicht genau dieselbe Logik dazu geführt hätte, dass auch dieses Verstehen à  tout prix versucht wird zu verhindern.

Eine ähnliche Reaktion erlebe ich übrigens, wenn ich Phänomene, die tatsächlich nur eine Minderheit betreffen, wie Konsum harter Drogen, regelmässige Gewaltausübung oder verbrecherische Aktivitäten, als Symptome beschreibe, die mit uns allen genauso viel zu tun haben, wie mit den Trägern der Symptome. Wenn ich also menschliche Gesellschaften als einen einzigen Organismus bezeichne, zu dem all dessen Symptome unabdingbar dazugehören.

So werde ich denn fortfahren, an alltäglichen Beispielen aufzuzeigen, wie das UV21 auf uns alle einwirkt und wie es sich in einer Vielzahl von Gewändern manifestiert – in sozial auffälligen und unauffälligen. Egal, wie es sich bei Ihnen manifestiert – und ob Sie das bereits erkannt haben oder nicht: Sie gehören, genau wie ich, zu ‚den andern‘. Und `die andern`zu uns. Tut mir leid: Sie sind nicht die grosse – und auch nicht die kleine! – Ausnahme.

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