Gesellschaftliche Mythen IV – Die Erbsünde oder: ‚So ist halt das Leben‘

von 2b am 9. April 2007

Zur Prognose für nächsten zehn Jahre ist noch ein Nachtrag fällig. Er markiert einen weiteren Meilenstein, den wir Menschen der Sammlung gesellschaftlicher Mythen hinzugefügt haben.

Es geht noch um das Phänomen der Erbsünde. Da wir gerade unter dem durchaus angenehmen Bann eines christlichen Feiertags stehen, kommen religiöse Phänomene gerade recht.
Für Menschen, die mich schon länger kennen und von mir im Umgang mit Religiösem höchstens Ironie erwarten, verweise ich darauf, dass ich in meiner Bewertung zwischen Religion und Gott unterscheide. Und das ganz entgegengesetzt zur Art und Weise, wie das fortschrittliche Religiöse tun!
Und zwar so: Während die Religion eine durchaus wichtige gesellschaftliche Rolle innehaben müsste – jene der ethischen Instanz, die über die Werte wacht und diese weiterentwickelt -, steckt der Teufel in der Erfindung von Gott. Erst dadurch wurde Religion als Institution obsolet und schliesslich ganz und gar unbrauchbar. Ja, sie ist dadurch zur Schreckens-Institution geworden, die weltweit wohl am meisten zum dramatischen Verlust der Lebenskompetenz beigetragen hat.

Wer mit Gott operiert, ersetzt die eigene schwache Persönlichkeit mit einer konstruierten Über-Macht, die ihm oder ihr nun das Fehlende ersetzen und die Macht sichern soll. Sei das individuelle Macht gegenüber dem Schicksal, insbesondere in Bezug auf das alltägliche Scheitern im gewöhnlichen Leben (statt zu handeln, wird gebetet und auch anderweitig versucht zu manipulieren). Sei das angemasste Macht innerhalb von Kollektiven.

Der Religion als Institution gegenüber bin ich also ganz entspannt und grundsätzlich positiv gestimmt.

Und so weiss ich die Erfindung der Erbsünde durchaus zu würdigen. Beweist sie doch immerhin, dass die Betreffenden eine merkwürdige Regel im Verlauf der Menschengeschichte deutlich wahrgenommen hatten und diese mit ihren Mitteln, mit ihrem Bewusstsein zu erklären versuchten.

Wir müssen nämlich feststellen, dass es in der Menschengeschichte keine echten Lösungen gibt.
Sobald eine scheinbare Lösung getroffen wird, erscheint, oh Wunder, das nächste Problem.

  • Werden die Seuchen erfolgreich bekämpft, erscheint wie aus dem Nichts Aids, dann SARS, die Vogelgrippe.
  • Wird irgendwo Frieden geschlossen, flammt woanders ein neuer Krieg auf.
  • Gewinnen lebenszugewandte Kräfte an Gewicht, erstarkt anderswo eine reaktionäre, lebensfeindliche Bewegung.
  • Die Bewältigung einer Krise führt folgerichtig zur nächsten Krise.
  • Mit dem steigenden Wohlstand steigt gleichzeitig die Verwahrlosung und die Gewalt
  • Mit dem massenhaften Einsatz von Psychotherapie steigt zugleich die Rate an psychischen Krankheiten.
  • Genau dasselbe mit der Medizin.
  • Mit der erfolgreichen Technisierung und Automatisierung steigt gleichzeitig das Arbeitsvolumen ins Unendliche. Niemand wird mehr fertig.
  • Mit den kürzeren Arbeitszeiten und der zunehmenden ‚Freizeit‘ steigt der Arbeitsdruck und der Stress.
  • Mit dem Überfluss auf der einen vergrössert sich die Not auf der andern Seite – und das nicht nur global gesehen, sondern auch in jedem einzigen Individuum.
  • Jeder Fortschrittt in unserem Wirtschaftssystem trägt schon die nächste Krise in sich.
  • Und schliesslich die Essenz des Wahnsinns: Je mehr Zeit wir haben, desto weniger Zeit haben wir.

Das ist also der Sisyphos, wie er leibt und lebt!

Ach, welcher Friede herrscht doch im alljährlichen Zug von Millionen von Tieren durch die Masai Mara – fressen und gefressen werden inklusive!

Wir haben uns so sehr an diese merkwürdige und völlig unlogische Regel gewöhnt, dass wir ihre Absurdität nicht wahrnehmen. Wer den Stein immer wieder von neuem den Berg hinauf rollt, nur um ihn wieder zu verlieren, merkt eben kaum sein absurdes Tun. Er erkennt nur das, was ihm als der naheliegende und daher logische nächste Schritt erscheint: weiterschieben. Nur eine entschlossene Pause könnte es ihm eventuell möglich machen, auf eine echte Lösung zu stossen. Für Pausen haben wir allerdings immer weniger Zeit, auch nicht für Denkpausen. Und das ausgerechnet jetzt, wo unser Wissen, unser Bewusstsein und unser Können einen so hohen Stand erreicht haben. Ein weiteres Beispiel für die Anwendung der Regel!

Jede scheinbare Lösung führt bloss zum nächsten Problem.

Wir investieren mit immer wieder neuer Hoffnung einen Grossteil unserer gesellschaftlichen Mittel – materielle Mittel, geistige-emotionale Anstrengung und Arbeitsenergie – in diesen endlosen Kreislauf, der nur eine Regel kennt: das Scheitern.

Wenn ich nun davon ausgehe, dass diese Regel nichts das geringste Natürliche an sich hat.
Wenn ich nun nicht die geringste Neigung zu fatalistischen Erklärungsversuchen habe.
Wenn ich nun nichts in mir spüre, das vor der Herausforderung ohnmächtig und feige die Segel streicht – mit Worten wie: „Es ist halt so.“ Oder: „Da kann man nichts machen.“
Wenn ich nun gar behaupte: Bis jetzt war bloss der Ursprung dieser ganz und gar unlogischen Regel des Scheiterns verborgen; nur deshalb konnte sie sich als schreckliche Regel etablieren, mit der sich regel-mässig die meisten Menschen abfinden.

Versuche gab und gibt es ja genügend.

  • Die Macht der Religion vergrössern
  • Politischer Umsturz
  • Das System auswechseln
  • Idealistische Erneuerungsbewegungen
  • Umfassende Reformen

Wenn ich also sage, die ‚Erbsünde‘ ist tatsächlich so etwas wie Vererbtes: Eine jeweils partielle, insgesamt aber krasse Lebensuntauglichkeit, die wir von Generation zu Generation weitergeben.
Wenn ich der Behauptung auch noch den Lösungsentwurf beiseite stelle.
Wenn ich den Lösungsentwurf auch mit den entsprechenden Verfahren ausstatte…

… so hat das Ganze nur den einen Makel:

  • Es muss zuerst auf breiter Basis bewiesen werden, dass das mehr ist, als ein weiterer Versuch des Sisyphos;
  • dass durch dies Lösung tatsächlich die vielleicht schlimmste Regel, die Menschen sich gegeben haben und sie dann mehrheitlich als solche akzeptierten, durchbrochen und aufgelöst wird;
  • dass echte Lösungen – ohne merkwürdige Rückstände und ebenso merkwürdige Folgen – auch bei uns Menschen tatsächlich möglich sind. Denn welche Gattung wäre dazu besser ausgerüstet, als wir Menschen!

Ich stelle mich auf den Standpunkt: Solange nicht bewiesen ist ‚ausser Spesen nichts gewesen‘, bleibe ich bei meiner Behauptung:

Die krass mangelnde Lebenskompetenz, von der die meisten Menschen betroffen sind, direkt und eng verbunden mit einem tiefen und existentiellen Unwertempfinden, das ebenfalls die meisten Menschen durchdringt und deren Leben letztlich bestimmt, ist der Ursprung der meisten menschgemachten Probleme.
Lösen wir den Knoten dort, unterbrechen wir die unselige Weitergabe der Hypothek: ‚Null Bock auf Lebenskompetenz‘, so stirbt Sisyphos und das Ringen um eine langfristige Fortsetzung menschlichen Lebens, das diesen Namen auch verdient (auch im vergleichenden Seitenblick auf das perfekte Existieren anderer Lebewesen) erhält seine reelle Chance.“

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