Fussball WM und so: Wo steht die Schweiz?

von 2b am 5. Juli 2006

Fragezeichen -> Zuversicht -> Ernüchterung: Ein Wechselbad der Gefühle hat uns die Schweizer Nationalmannschaft an dieser Fussball WM beschert. Die Frage bleibt, nach dem etwas frühen und vor allem unnötigen Ausscheiden: Wie fit sind diese Fussballer nun wirklich? Sind das bereits „Les Suisses gagnent – c“est normal“? Oder wirkt da erst ein gutes Mindkonzept, das von der Tiefe her aber nicht wirklich gestützt wird? Und weiter: Bildet das WM-Schicksal unserer Fussballer vielleicht genau die Verfassung des starken Teils unserer aktuellen schweizer Jugend ab? Fussballerisch gesehen können wir relativ leicht Bilanz ziehen. Der aktuelle Fussball lebt von 3 Dingen:

  1. dem schnellen Passspiel
  2. dem Pressing
  3. und der permanenten Bewegung aller Spieler

Dadurch wird das Spiel nicht nur enorm schnell, sondern zugleich enorm präzis. Eine Mannschaft, die all das beherrscht – neben Taktik, Fitness, mentaler Stärke usw, die schon immer eine wichtige Rolle spielten –, die macht den Unterschied. Eine Frage, die sich sofort stellt, ist, ob das etwa auch die Koordinaten sind für andere, zum Beispiel wirtschaftlich erfolgreiche Tätigkeiten in unserer aktuellen Gesellschaft. Klingt gar nicht so abwegig, nicht wahr? Jedenfalls nahe liegend genug, um den Fussball noch etwas weiter als Metapher zu strapazieren. Ich unterscheide zwischen guten, Klasse- und grossen Mannschaften (die Verlierer lasse ich aussen vor).

  • Eine gute Mannschaft hat die Anforderungen an moderne Sieger begriffen und arbeitet daran.
  • Eine Klassemannschaft beherrscht diese 3 Säulen des modernen Fussballs ziemlich perfekt.
  • Eine grosse Mannschaft muss mehr bieten: Sie gewinnt regelmässig gegen starke Gegner und kämpft an grossen Turnieren um den Sieg.

Die Schweizer Fussballer bewegen sich gut und engagiert; sie spielen ein ausgezeichnetes Pressing. Aber sie beherrschen das schnelle Passspiel nicht. Ganz besonders im Sturm ist das eine ihrer Schwächen (erinnern Sie sich beim Lesen doch bitte ab und zu daran, dass ich dieses Thema stets auch als Metapher für die Jugend allgemein behandle!). Insgesamt ist also die Einschätzung klar: Die Schweizer Fussballer sind eine gute Mannschaft. Wieder stellt sich eine spannende Frage: Werden sie je eine Klassemannschaft, wie das ihr Trainer bereits für die Euro 08 plant? Wir können das Profil unserer Nati noch etwas aufsplitten:

  1. Die Verteidigung unserer Nationalmannschaft halte ich nicht nur für Klasse, sondern für Weltklasse. Sie hätte auch im Final eine gute Figur gemacht. Potential für „gross“.
  2. Das Mittelfeld finde ich sehr gut; es könnte ein Klassemittelfeld sein.
  3. Der Sturm hingegen ist nur gut. Immerhin. Aber im Weltspitzenfussball sind unsere Vollstrecker halt, trotz Alex Freis beleidigter Miene: durchschnittlich.

Wer möchte in dieser Generation schon durchschnittlich sein? Sein Aufbäumen finde ich super! Nur muss man den Anspruch dann auch ganz erfüllen. Ich habe mich direkt im Anschluss an das Ukraine-Spiel bereits zur Abschlussschwäche geäussert. Eine Mannschaft ohne richtige(n) Goalgetter kann niemals mehr als gut sein. Im Fussball kann man nur durch Tore gewinnen. Der Sturm macht am Schluss den Unterschied. Ich neige also dazu – analog zu Wirtschaft, Politik und andern gesellschaftlichen Aktivitäten –, die Fähigkeit, aggressiv, selbstsicher, kraftvoll und zügig abzuschliessen als „Key-skill“, als „Conditio sine qua non“ zu sehen. Wo steht also die Schweiz? Wo steht unsere Jugend? Und wie ist der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Jugend? Es ist offensichtlich, dass auch in der Schweiz die nach-68er Generation nach den Softies der 68er Eltern eine ganz gute Mischung gefunden hat zwischen etwas Emotionalität (es dürfte auch mehr sein, ohne kraft- und grenzenlos zu werden) und selbstbewusstem Auftritt. Diese Jungen wurden als Kinder in der Regel von den Eltern zumindest ab und zu angefasst, wertgeschätzt, gefördert. Sie hatten es in Vielem besser, als bis und mit meine Generation, die stets unter allgemeinem Notstand litt, was das vielfältig Nährende angeht. Freude herrscht. Es reicht für hervorragende Verteidiger ihrer selbst (zwei bei Arsenal + Frei mündlich). Es reicht für einen guten, zügigen Aufbau mit der richtigen Aggressivität, der Bereitschaft, den andern auch mal auf die Füsse zu treten. Aber es reicht nicht für Goalgetter – smart, aggressiv, flink und bereit sowie fähig, ohne jedes Zögern präzis abzudrücken. Noch nicht?

  • Durch den Verlauf der WM ernüchterte Einsicht und These 1: Die Schweizer Fussballer – und vielleicht eben auch die Schweizer Jugend – stützen von unten her noch nicht, was sie vorgeben. Ihre Selbstsicherheit reicht noch nicht bis in die Zehen (was im Fussball ja nicht ganz unwichtig ist – siehe zB das Penalty-Schiessen).
  • Durch die positiven erzieherischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ermutigte Prognose und These 2: Wenn es noch eine Generation gut läuft, dann können sie es schaffen. Was aber muss erfüllt sein, damit es gut läuft? Diese Frage lasse ich offen.

Abgesehen von den offensichtlichen sehe ich in diesem Bereich keine wichtigen Unterschiede zwischen der männlichen und der weiblichen Schweizer Jugend. Ausser vielleicht einem leichten Vorsprung für die jungen Frauen. Und wie machen es die andern Fussballnationen? In grossen Ländern ist natürlich die Auswahl an Talenten gross; dadurch vielleicht weniger aussagekräftig für den Zustand von deren Jugend allgemein. Und in Ländern anderer Kulturen ist die Struktur der Persönlichkeit anders gewichtet. Aber fussballerisch ist klar: Argentinien hat eine Klassemannschaft, ebenso die Holländer; beide aber keinesfalls eine grosse. Und die überraschende Schwäche, sich zu einem so gehässigen, widerwärtigen Spiel hinreissen zu lassen, wie die Holländer gegen Portugal, weist leider auch definitiv nicht in eine entsprechende Zukunft. Portugal gefällt mir eigentlich nicht. Ich neige dazu, sie nicht mehr als gut zu nennen. Spanien hingegen, die Verlierer, hätten das Zeug zur Klasse. Aber eben: hätten. Brasilien spielt mit ihren abgetackelten Stars einen antiquierten Steh-Fussball und überlebt nur dank unvergleichlicher Ballkunst. Sie sind zudem ganz verliebt in das Spiel – Pressing undenkbar. Entweder gewinnen sie genau damit alles – weil sie ihre Räume haben – oder sie gehen sang- und klanglos unter, ohne sich ernsthaft zu wehren. Nur tanzen: eigentlich sympathisch. Aber wenn in der Disco kein Platz ist, ist mit Tanzen nichts. Parreira, ein typischer Trainer der alles falsch gemacht hat, indem er die alternden Stars zum Samba bat. Merkwürdig, wie viele Fehlpässe Hunaldinju (phonetisch) in den letzten 2 Spielen schlug, obwohl er sonst ein moderner Fussballer ist; einer der letzten zudem – Ehre sei ihm! –, der (mit Ausnahme eben der letzten beiden Spiele) konsequent über die Beine springt, statt sich draufzulegen. War der eigentlich schon mal verletzt? Roberto Carlos rennt natürlich auch weiterhin auf und ab. Aber der Atem reicht ihm dann nicht mehr für brauchbare Pässe und Schüsse. Nun hat er es wenigsten selbst gemerkt, dass für ihn (längst) Ende Feuer ist. Die Trainer, die alles richtig gemacht haben, sind natürlich jene, die so mutig waren die wirklich Jungen an die WM mitzunehmen. Oder zumindest die Superagilen. Allen voran Klinsmann – insofern Deutsche so etwas wie superagil wirklich verstehen. Die deutsche Mannschaft ist – nein leider war – für mich klar die Überraschung des Turniers. Ausser Ballack: Der ist immer noch ein hinterlistiger Fötzel (wie wir auf Zürichdeutsch so direkt sagen), aber eben auch ein smarter Techniker, der den Ball mit Lackschuhen spielt. Die Deutschen stehen für mich hart an der Grenze zur grossen Mannschaft. Aber für den letzten Schritt hätten sie gestern gewinnen müssen. Und genau das war nicht drin. Italien hat ihnen ihre technischen Limiten zu deutlich aufgezeigt – oder vielmehr: durch ihre eigenen überlegenen technischen Fähigkeiten den Unterschied allzu deutlich gemacht. Italien, die zweite Überraschung des Turniers: Die 23 Ballacks (ohne dessen Ballgefühl) haben sich zur erfrischend, relativ fair aufspielenden (danke, oh grosser Schiedsrichter aus dem fernen Land, wo die Tequila fliesst!) Offensivtruppe gemausert, die einfach alles kann (ausser so gut zu sein wie die Brasilianer individuell). Die vorherigen Hacker entpuppen sich klar als grosse Mannschaft. Was hat da Lippi richtig gemacht? Also, Moggi konnte es ja nicht sein. Oder gerade doch? Hat der Skandal einen Ruck in der Mannschaft bewirkt, es endlich beim Spielen zu belassen. Es wird sehr vermutlich vorübergehend sein. Freuen wir uns also an dem was wir haben. In der Tour de France haben wir ja nichts und niemanden mehr. Also gibt es auch nichts zum Freuen. Es ist doch interessant, wie viel Freude wir uns gönnen, obwohl wir wissen: Die sind alle gedoppt, oder: Die bescheissen alle, oder: … Angesichts der Gelegenheit mitzufiebern und uns zu freuen macht uns die Täuschung gar nichts aus, auch wenn sie bekannt ist. A propos Frankreich: die Franzosen. Sie haben gegen Brasilien gross aufgespielt. Das macht sie noch nicht zur grossen Mannschaft. Und das werden sie auch nicht, falls sie Weltmeister werden. Was hat also Domenech richtig gemacht? Er hat alles falsch gemacht, wie alle, die auf das Alterskapital vertrauten bzw Altlasten mitschleppten. Die kommen bei diesem Tempo doch nicht mit. Nichts gelernt von Real Madrid? Aber er hatte Glück. Aus irgendeiner Laune des Schicksals heraus oder vielleicht einfach aus nostalgischer Erinnerung, haben zwei seiner Götter gespielt wie einst im Mai – bzw im Juli (1998 gegen das ziemlich selbe Brasilien): Zidane, nochmals kurz auferstanden und Henry, trotz seines auch schon fortgeschrittenen Fussballeralters, ein topmoderner Fussballer, der einfach alles mit sich bringt, was einen grossen Stürmer ausmacht. Alles – auch die Schwalben! Das verführt zur Ansicht, dass der Fussball deshalb die aktuelle Form gefunden hat, weil Leute wie Henry schon immer so spielten und wegen ihrer Spielweise nachahmenswerte Erfolge feierten. Aber sonst die Franzosen: Kickfussball. Ich bin wirklich gespannt, wo die Schweizer Fussballer in zehn Jahren stehen werden. Jetzt hat es insgesamt deutlich noch nicht gereicht, um als Siegerpersönlichkeiten neben den grossen Ländern mit grosser Geschichte – auch Schattengeschichte – zu bestehen. Aber da sind erfreuliche Qualitäten und sogar noch Potential vorhanden. Ich bin sicher, der Schritt über den alten Schatten der „Petit Suisses“ kann ohne weiteres gelingen (Federer haben wir schon mal!). Auch ich werde gern meinen Beitrag dazu leisten. Schliesslich bin ich ein Kind dieses Landes – und liebe es in vielem. Aber ich identifiziere mich auch genug mit der ganzen Welt, dass ich das selbstverständliche Empfinden habe: Wir können genauso gute Goalgetter werden wie junge Menschen anderer Länder. Es gibt nichts wirklich Relevantes, was dagegen spricht, ausser wir arbeiten nicht daran.

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