Wissen oder Verstehen – welches bringt“s?

von 2b am 8. Dezember 2006

Über all der Aufregung ist mein wunderbarer Artikel über ‚Wissen und Verstehen‘ in den Hintergrund gedrängt worden. Das kann ich natürlich nicht zulassen. Also sei er hiermit wieder nach vorn gerückt. Und gleich noch erweitert.

Ist der Samichlaus nun ein Mann des Wissens oder des Verstehens?
Philosophische Erörterungen über diese zentrale Frage bitte am Kommentarschalter abgeben!

Ich jedenfalls bin immer wieder von Menschen beeindruckt, die so viel wissen. Und wenn sie das dann noch eloquent rüberbringen, erst recht.

Dennoch halte ich den gesellschaftlichen Nutzen von „Verstehen“ für x-Mal (10x/100x?) grösser, als jenen des „Wissens“

Und das galt noch nie so, wie heute, im Zeitalter des Internets, wo praktisch alles Wissen der Welt instant für jedermann und -frau verfügbar ist. Mit Wissen kann man wahrlich nicht mehr brillieren.

Ich weiss, es ist anmassend von mir, all das zu sagen. Ganz besonders, nachdem die Tagespresse sich der „Vielwisser und Alleswisser“ (zB TA, 21.11.06) in der Schweiz so gern annimmt. Outete ich mich doch bereits früher als Mensch des Verstehens.
Aber mit mir hat diese Einsicht und Erfahrung gar nichts zu tun. Es ist ein reiner Zufall – oder eine Fügung des Schicksals – dass ich gerade diese Richtung eingeschlagen habe und heute diese Rolle einnehme. Es macht mich keineswegs wertvoller, nur das Verstehen selbst ist wertvoll.

Ende der 70-er und anfangs 80-er Jahre war ich in der Schweiz so etwas wie eine Anlaufstelle für Bioenergetische Psychotherapie. Da bewarb sich einst eine junge Therapeutin bei mir, um in meiner Praxis als Assistentin zu arbeiten. Wir trafen uns in einem Caféhaus. Sie erzählte mir, dass sie alle Bücher von Alexander Lowen mehrmals gelesen hätte. Immer wieder zitierte sie aus einem der Bücher und fragte mich, ob ich die Stelle kenne. Nachdem ich einige Male „nein“ gesagt hatte, war ich es leid. Ich beendete ihre Demonstration mit dem Hinweis, dass ich längst nicht alles von Lowen gelesen hätte und schon gar nicht auswendig wüsste, was wo stehe. Dass ich ihn aber trotzdem persönlich sehr schätze und wir uns stets gut verstanden hätten. – Die Frau wusste alles, aber ich hätte ihr nicht einen einzigen meiner Klienten anvertraut.

ich halte es für ziemlich heikel, dass Verstehen immer mehr aus unserem gesellschaftlichen Leben verschwindet. Das Internet, wo Sie sich gerade befinden, ist ein gigantischer und kostbarer Wissenspool. Aber Sie können dort kaum ein Quäntchen Verstehen lernen. Selbst, wenn Sie mein massenhaftes Verstehen aufnehmen, wird das für Sie vorerst bloss Wissen sein. Verstehen ist dann ein Prozess, der kaum rational, sondern als Gesamterlebnis des Organismus und daher x-fach kraftvoller abläuft, ablaufen muss. Verstehen ist eine persönlich bewegende Erfahrung.
Was wird uns letztlich all das Wissen, das wir angehäuft haben, nützen, wenn wir nicht verstehen?

  • Ohne Verstehen wird uns nichts: kein universelles Buch, kein Internet, daran hindern, geradewegs mit dem Kopf in die Mauer zu rennen: Weil wir sie nicht sehen.
  • Verstehen unterscheidet sich von Wissen dadurch, dass es nur als lebendiger Vorgang funktioniert – dynamisch, unsystematisch.
  • Verstehen kann man nicht lehren, überhaupt nicht vermitteln.
  • Verstehen ist das Ergebnis einer lang geübten persönlichen Disziplin, die va mit bewusstem Kontakt und Durchlässigkeit zu tun hat.
  • Intuition allein ist noch nicht Verstehen. Verstehen beweist sich schliesslich durch rationale Logik. Bevor das soweit ist, ist es Ahnung. Übrigens: Rationale Logik und Erklärung sind nicht identisch. (siehe auch unten!)
  • Verstehen kommt nicht ohne Wissen aus. Aber eine beschränkte Menge davon ist dem Verstehen förderlicher als allzu viel.
  • Verstehen ist nicht kopierbar. Verstehen ist stets originär.

Wissen hilft, das was auftaucht bzw sich in die Wahrnehmung schiebt, logisch zuzuordnen und miteinander zu kombinieren. Fehlt das, sind wir einer kindlich-naiven Intuition ausgeliefert, wie sie etwa von „geistigen Medien“ praktiziert wird (ich hatte an der Hand meiner Mutter Gelegenheit, reiche Erfahrung damit zu sammeln). Das heisst, die Intuition ist vielmehr uns ausgeliefert. Sie schreit dann geradezu nach Mythen, die Erklärungshilfen bieten sollen. In der Folge werden fast alle transzendentalen Erfahrungen unter einer Ideologieglocke erstickt. Blieben wir offen, würden sie uns nähren, weit machen. Versehen mit Überbau, machen sie uns zu Gefangenen. Zu Gefangenen einer Ideologie oder einer Religion. Jeder solche Schritt ist eigentlich ein Schritt zurück hinter den Beginn der Aufklärung.
Es ist einigermassen erstaunlich, wie oft und gern wir modernen, coolen Menschen uns hinter den Vorhang zurückziehen, hinein ins Dunkel der ganz ernst gemeinten Mythen, Märchen und magischen Bilder. Ja, das ist sogar unglaublich! Unser Bewusstsein ist, vom einfachen Alltag bis zur Wissenschaft, mit haarsträubenden, kleinkindlichen Mythen en Masse durchsetzt. Ich kann gar nicht aufzählen. Es ist die schiere Unzahl. Hören Sie Radio! Lesen Sie Zeitung! Schauen Sie Fernsehen! Ein wahrer Kosmos des krassen Unverständnisses wird dort (neben zuverlässigem Wissen) ausgebreitet – während parallel für jede Farbvariante einer Rübe wissenschaftliche Belege gefordert werden. Das Radio vor allem – mithin das Medium für die (va Frauen), die Zeit haben zuzuhören – ist das Medium schlechthin für diesen haarsträubenden Mix.
Das ist nur möglich mit Mindkonzepten, die aus der magischen Welt des kleinen Kindes stammen. Sie sind offenbar so stark, dass sie noch den intelligentesten Menschen locker jeder Vernunft berauben.

Verstehen braucht zwingend Zeit. Braucht Musse. Braucht von den 3 Säulen der Regeneration vor allem die Dritte: das ‚Sich-treiben-Lassen‘.
Verstehen braucht Stille.

Sie merken es, werte Leserinnen und Leser: Es kommt nicht von ungefähr, dass wir das Verstehen verlieren. Das hat alles seine Logik und zwingende Konsequenz.
Als ich einst vor der Anmeldung an die Universität mit Medizin und Psychologie liebäugelte, sagte ich mir nach Prüfung der Studienpläne: „Wenn ich Medizin studiere, habe ich keine Zeit für Musse. Ich akkumuliere eine Unmenge von Wissen in kurzer Zeit. Wie will ich da lernen, die Patienten zu verstehen?“ Die Psychologie machte das damals noch anders. Heute ähnelt das Psychologiestudium dem der Medizin. Keine Zeit mehr für Verstehen. Klienten werden zum mechanischen Subjekt, das mit technischem Wissen behandelt wird.

Das ‚männliche Prinzip‘ setzt sich also weiterhin ungebrochen durch. Ich setze das in Anführungszeichen, weil auch ‚das männliche Prinzip‘ ein Mythos ist. Männer setzen bloss auf lineares Denken (mechanisches Wissen) und vermeiden tendenziell Verstehen, weil sie damit den Betrug über ihr eigenes Sein 1. vor sich selber wie vor den Frauen verbergen können, 2. die Lüge perfekt erklären können. Rational kann man jeden Mist erklären. Und erst noch überzeugend, wie die Weltgeschichte zur Genüge beweist. (siehe dazu auch). Männer sind ähnlich zum Verstehen geeignet, wie Frauen. Lassen Sie, Mann, sich Zeit, gönnen Sie sich Stille, lassen Sie sich täglich zwischendurch treiben… und mit der Zeit beginnt sich Ihr Denken zu ändern. Ein Wunder tut sich auf: Sie beginnen zu verstehen.

1 Kommentar »

  1. Ich beginne zu verstehen!

    Michael am 12. Dezember 2006 um 15:32 Uhr

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